Tango Geschichte, Literatur & Philosophie

 

Die auf dieser Seite befindlichen Texte zu Geschichte und Philosophe des Tango vom Rio de la Plata sind Auszüge aus Tango-Büchern von Ralf Sartori

Tango ist ein rätselhafter innerer Zustand, der den engumschlungenen Paaren gehört. (…) Wenn eine neue Tanzkultur mit ihrer ganz eigenen Musik irgendwo entsteht und in einem Milieu Verbreitung findet, erfüllt sie mindestens zweierlei Voraussetzungen: Sie muß das ausdrücken und auf den Punkt bringen, was alle empfinden, so etwas wie ein Lebensgefühl, und an die Sehnsucht und Bedürfnisse der Menschen rühren – was beides im Tango geschah. Und darüber hinaus ist er etwa 130 Jahre später immer noch aktuell und lebendig, ein Beleg für seine enorme Universalität. Sein kultureller Schöpfungsprozeß verlief parallel zur Entstehung einer neuen Kultur und wurde zu ihrem eigenen Ausdruck. Er war das Resultat einer brodelnden Verschmelzung verschiedener aufeinanderprallender Kulturen im Überlebenskampf entwurzelter Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Mündungsgebiet des Rio de la Plata. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß gerade mit dem Tango ein besonders erdiger Tanz kreiert worden war, bei dem die Verwurzelung der Tänzer mit der Erde, dem Boden, auf dem der Tanz stattfindet, große Bedeutung hat. Tatsächlich wurde dieser Tango eine Heimat für die Entwurzelten und Heimatlosen dabei. (…)

Während des 19. Jahrhunderts gab es in Argentinien Bestrebungen der Mächtigen, das Land zu besiedeln und zu erschließen. Dazu holte man massenhaft europäische Einwanderer ins Land, indem man ihnen versprach, günstig Boden erwerben zu können. Man tötete und vertrieb die Indianer aus Patagonien, die Araukaner, und verkaufte Land an ausländische, meist englische Konzerne. Mit der Einzäunung der Weideflächen verloren viele Gauchos ihre Arbeit. Industrialisierungsprogramme führten zur Entwurzelung der Campesinos. Es entstanden zwei Gruppen, die in den schnell anwachsenden Elendsvierteln aufeinanderprallten: Auf der einen Seite die entwurzelte Landbevölkerung, auf der anderen drängten massenhaft europäische Emigranten ins Land, denen zumeist nur noch der Weg in die Slums offenstand, nachdem die Preise für Grund und Boden durch Spekulation rapide gestiegen waren. Zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts wuchs Buenos Aires explosionsartig, und der ausländische Bevölkerungsanteil übertraf die Zahl der Einheimischen um ein Vielfaches. Beide Gruppen, die hauptsächlich europäischen Einwanderer sowie die entwurzelte Landbevölkerung Argentiniens, die ihr Glück dann im städtischen Leben finden wollten, stießen in den ärmlichen arrabales (Vororten) von Buenos Aires und Montevideo aufeinander. Jorge Aravena beschreibt in seiner Biographie über Carlos Gardel die Entstehung des Tango folgendermaßen: „Hier an diesem vitalen Ort begegneten sich menschliche Naturen und kulturelle Eigenarten europäischer, kreolischer und mestizischer Provenienz in einem Glücksfall von Paarung, die mehr Kampf als Liebe war, gekennzeichnet von Rivalität und jähen Zusammenstößen… – dies war der Nährboden eines notwendig gewordenen kollektiven Ausdrucks, der sich zu einem Produkt kristallisieren sollte, das ein wahrheitsgetreuer Reflex dieser Turbulenzen ist … Musik, Poesie und Tanz, drei stets präsente Elemente im Alltag, den sie zugleich repräsentieren und der sie auf bestimmte Weise prägt, wurden Mittel der Kommunikation und der Konfrontation.“

(…) Für einen gewissen Typus männlichen Geschlechtes, den sogenannten Compadre, einer beinahe mythisch verklärten Figur, halb ritterlicher Edel- und Ehrenmann, halb Zuhälter, Ganove und Finsterling, wurde der Tango Mittel zur Eigenstilisierung und Lebensstil. Die meisten Compadres waren ehemalige Soldaten oder Gauchos, denen der gesellschaftliche Aufstieg versagt blieb. Ihre wichtigsten Ideale waren männlicher Mut und elegantes Auftreten. Nicht selten bescherte ihnen ihr Draufgängertum ein jähes Ende in einem Messerduell, später oft kopiert von einer etwas langlebigeren, bereits salontauglicheren Erscheinungsform, dem angeberischen Compadrito.

(…) Tango ist kein Folklore-Tanz, da er von der Landbevölkerung niemals übernommen wurde. Er ist untrennbar mit dem Leben der städtischen Nächte verbunden und entstand in den Bordellen der Vorstädte, hauptsächlich denen von Buenos Aires, nicht zuletzt, da diese die einzigen öffentlichen Orte waren, an denen man sich auch ein Ensemble von Musikern leisten konnte – Prostitution als Kulturförderung. Sehr viel später infizierte der sog. Tango-Virus (ein unerträglich abgedroschener – doch schier unersetzbar zutreffender Begriff) die Pariser High-Society, über das Meer getragen von argentinischen Tänzern und Musikern, die in Frankreich ihr Glück versuchten. In ihre Schar reihte sich später auch der legendäre Carlos Gardel, dessen Mutter, eine einfache Wäscherin, aus Lyon stammte. Über den Umweg des vom argentinischen Großbürgertum bewunderten Paris kehrte der Tango nun in Ehren nach Buenos Aires zurück, wo er von immer weiteren Schichten der städtischen Bevölkerung angenommen wurde und schließlich Einlaß in die Salons der Bourgeoisie fand. Auch das Kleinbürgertum übernahm ihn. Und zwischen den 30er und 50er Jahren durfte er auf keinem Fest fehlen. Nachdem der Tango über sein anrüchiges Geburts-Milieu hinausgewachsen war, bildete sich ein neuer Typus des Tangotänzers aus, der Milonguero, der auch heute noch überall präsent ist, wo Tango getanzt wird. Im Gegensatz zum Compadre übt der typische Milonguero einen bürgerlichen Beruf aus und widmet seine Freizeit voller Hingabe dem Tango. Auch er hält viel auf geschliffene Umgangsformen. Sowohl sein Umgang außerhalb, als auch innerhalb des Salons zeichnet sich durch Achtsamkeit –, sein Verhalten durch Sozialverträglichkeit aus. (…) Obwohl Tango in seiner Quint-Essenz das ausdrückt, wonach sich moderne Großstädter sehnen, so ist es doch ironischerweise gerade der kalte Wind des Zeitgeists, der diesem Tango – bei zunehmender Verbreitung – doch immer mehr seine Wesensflamme heute ausbläst. (…)

Ralf Sartori

Warum? Mehr dazu und über viele weitere Tango-Aspekte im Buch „Tango – die einende Kraft des tanzenden Eros“, mittlerweile ein Klassiker der Tango-Literatur, der im August 2010 in überarbeiteter und erweiterter Auflage im Münchener „Allitera“ Verlag neu erschienen ist, mit 232 Seiten, für 19,80 Euro unter ISBN 978-3-86906-132-0.

Weitere Tango-Literatur unter www.tango-a-la-carte.de/tango-buecher.

 

Was den Tango ausmacht und die Philosophie, die seiner Technik eingeschrieben ist

Tango entwuchs dem Ausdruck kreativer Improvisation und Kommunikation zwischen den Menschen der verschiedensten Herkunfts-Kulturen in den Slums von Buenos Aires und Montevideo. Dabei entstand dieses eigenartige Misch- und Zwitterwesen: zu gleichen Teilen geboren aus Kampf, Abgrenzung und Rivalität einerseits, sowie aus Sehnsucht und Anziehung, dem Verlangen nach Nähe und Wärme, andererseits. Der Tanz besitzt noch zwei ihm ebenbürtige Schwestern: die Musik und die Poesie seiner Texte, und ist bis heute, nicht nur in den beiden Ursprungsländern, vor allem ein städtisches Phänomen geblieben. In Argentinien wurde er, als Kind der Gosse und wegen seiner Anrüchigkeit, der Nähe zu den Bordellen, wo sich seine Wiege befindet, auf dem Land nie wirklich akzeptiert. Deshalb fügt er sich auch nicht unter dem Begriff der Folklore. Genau genommen paßt er in keine Rubrik. Denn nach einiger Zeit mit ihm, stellt sich durchaus die Frage, wenn man ihn mit anderen Tänzen zu vergleichen beginnt, ob dieses gemeinsame eng umschlungene fließende Miteinander-Gehen, voll von gehaltener Energie, in unvorhersehbaren Arabesquen, überhaupt ein Tanz, oder nicht vielmehr etwas ganz anderes ist: wofür es uns bisher, aufgrund seiner Einzigartigkeit, einfach an einem Oberbegriff mangelt. Er entzieht sich aller Vereinnahmungsversuche, bleibt nicht-standardisierbar – und beunruhigend eigen. Er ist ein Einzelgänger, geboren in den chaotischen und wildgewachsenen Armutsquartieren an den Rändern städtischer Vororte am Rio de la Plata, die sich damals unvermittelt in den Weiten der Pampa verloren. Auch er hat die Weite im Blick, der beim Tanzen unfokussiert, bei gerader Haltung, in die Unendlichkeit gerichtet, ruhig mit der Bewegung des Paares – in paralleler Achse zum Boden – mitfließt. Er ist ein Alchemist, und ein Anarchist, der kommt und geht, wie es ihm gefällt, der zwischen Fabriketagen, schmuddligen Kneipen-Hinterzimmern und Schloß-Sälen nach Lust und Laune hin und her wandelt, scheinbar undurchschaubar, und der doch nach strengsten Regeln lebt, präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, und paradox ist bis in sein Mark hinein.

 

Tango-Technik: Eine Symbolsprache des Hohen Eros

Dem Tango eingeschrieben

Tango vom Rio de la Plata ist weder genormt noch vorhersehbar. Keine zwei Tangos sind also gleich, da er, wesensgemäß, immer einen lebendigen Dialog darstellt, auf der Grundlage einer hochdifferenzierten nonverbalen Sprache mit eigener Grammatik, reichem Vokabular und großer Silbenvielfalt. Die Form, in der dieses Gespräch einge­bettet wird, ist ein fein synchronisiertes Miteinander-Gehen bei inniger Umarmung, in einem fließenden, stabilen und gut geerdeten Bewegungsgleichgewicht beider Tanzenden. Tango bedeutet daher nicht Verschmelzung, sondern Vereinigung zweier zentrierter Wesen mit jeweils eigener Achse, die in größtmöglicher Achtsamkeit und Freiheit größtmögliche Nähe teilen, auf der Basis komplementärer Rollen, von Führen und Folgen. Dabei ist zu beachten, daß eine jede dieser Rollen ihren Gegenpart auf einer tieferen Ebene wiederum in sich selbst trägt. Nur wer sich hingibt, kann Führen; und nur wer die Impulse aktiv empfängt und umsetzt, ist im Tango auch fähig zu folgen. Dabei kennt der Tango keinerlei vorgefaßte Schablonen und ist so wenig planbar wie ein echtes Gespräch. Das klingt zwar kompliziert, ist es aber nicht, da die Lernenden meistens nach wenigen Unterrichtsstunden schon auf einfachem Niveau sehr abwechslungsreich tanzen können.

 

Tango – Autonomie in der Einheit

Die Verbindung zwischen den Tanzenden basiert auf der Achtung der Achse, der Mitte des Partners und dessen Gleichgewicht. Jeder ist für sein eigenes Gleichgewicht verantwortlich und wird dadurch auch der Verantwortung für das Du gerecht, weil so keine Notwendigkeit besteht, sich am anderen festzuhalten. Mann und Frau sorgen dafür, die eigene Bewegung in einer Weise zu gestalten, daß sie die Bewegungsfreiheit des Gegenübers, bei maximal möglicher Nähe, nicht beeinträchtigen. Zwei selbständige Menschen verbinden sich zu einem Paar, indem beide Ebenen gewahrt bleiben, nämlich die des autonomen Einzelnen sowie jene des Paares, wobei beide Seiten einander bedürfen, anstatt sich, wie im Leben so oft verbreitet,  gegenseitig beschädigen. Im Tango findet diese harmonische Synthese idealtypischen Ausdruck.

 

Das Herz als Sender und Empfänger

Im Tango bleiben beide Herzbereiche immer verbunden und voreinander, als ob ein Pfeil durch sie hindurchginge. Der Impuls tritt an der Stelle, hinter der sich das Herz befindet, am Brustkorb des Mannes aus, um an eben dieser Stelle bei der Frau, von jener wiederum aufgenommen zu werden. Es ist das wechselseitige Prinzip von Sender und Empfänger. Und das Übertragungsmedium ist ein konstanter, aber weicher Gegendruck von Brustkorb zu Brustkorb, oder, wenn man mit Abstand tanzt, der Spannungsbogen, der sich dann aus der Armhaltung ergibt (die im technischen Anhangdes Buchs beschrieben wird). Die Bewegung des Tango geht, sowohl beim Mann als auch bei der Frau, vom Punkt des Herzens aus. Ein weiterer Aspekt dieses Organs, neben dem der Liebe, ist der des Mutes. Das drückt sich bereits in der Umgangssprache aus: im beherzten Vorgehen, sich ein Herz fassen. (…) Diese mutige Entschlossenheit drückt sich in der Körper und Bewegungsform des Tango aus. Die Haltung ist bei Mann und Frau gleich. Beim Mann, der sich zumeist vorwärts bewegt, findet sie jedoch den aktiveren Ausdruck. Charakteristisch für seine Schritte ist das entschlossene Vorwärtsstreben aus dem Brustbein heraus. Dieser Punkt taucht zuerst in die Bewegung ein. Die Beine folgen mit kurzem Verzögern dieser Bahn. Dem beherzten Vorgehen hält der Tango eine getanzte Entsprechung entgegen, das Gehen aus dem Herzen heraus. Der Brustkorb wölbt sich etwas nach vorne, ohne daß der Tänzer dabei ins Hohlkreuz fällt. In dieser spannungsvollen Haltung drücken sich Mut und ein ausgeprägtes Bewußtsein für die eigene Würde aus. Die Wirbelsäule bleibt gerade und hält die Spannung durch die entsprechende vertikale Ausrichtung des Beckens. Auch hier findet der Körperausdruck seine sprachliche Entsprechung. Wir sprechen von einem Menschen mit Rückgrat, wenn wir ihn couragiert erleben. Jemand, dessen Rückgrat nicht nachgibt, ist integer. Er fällt weder aus der Form, noch bricht er in der Achse und verkörpert das Gegenbild zu quallenhafter Anpassung. Er steht für seine Überzeugungen ein und läßt sich nicht korrumpieren. Und gerade diese Haltung spiegelt offenbar eine gewisse Wertorientierung der Menschen am Rio de la Plata in der Gründerzeit des Tango wider, mit der wir heute durch diesen Tanz konfrontiert werden. Jene innere Haltung ist in seiner Form eingegossen und konserviert geblieben. Natürlich läßt sich diese auch zu einer inhaltsleeren Attitüde gut gebrauchen, und nur ein wenig übertrieben verleiht sie dem Tänzer den Ausdruck eines aufgeblasenen Gockels und Angebers. Doch in jedem Fall bleibt etwas vom Geschmack ihres essentiellen Gehaltes zurück. Die polare Kreisbewegung des Herzens zwischen  Anspannung und Entspannung findet im Tanz ebenfalls ihre Entsprechung, wo sich innerhalb verschiedener Polaritäten ein permanenter Wechsel, ähnlich dem eines pulsierenden Herzens vollzieht. Dieser Wechsel erlaubt uns, den musikalischen Rhythmus im Tanz zu betonen. Ausgehend von jenem Rhythmus läßt uns der Tango weitestgehende Freiheiten in dessen tänzerischer Umsetzung, erlaubt Tempo-Verdoppelungen sowie -Halbierungen und Schritt-Pausen. Auch der Grundtakt in der Musik ähnelt einem Pulsschlag, mit dem sich der Tänzer zu Beginn seines Tanzes verbindet. Und dieser Pulsschlag der Musik ist es, der die Bewegungen von Mann und Frau vereint. Er bringt beider Bewegungen trotz ihrer Verschiedenheit in synchrone Intervalle. (Über das Herz des Tango)

 

Ruhe und Bewegung

In Argentinien sagt man: „Ein Tangopaar ist ein Körper mit zwei Herzen und vier Beinen.“ Ein anderer Spruch besagt: „Tango sind zwei ernste Gesichter und zwei Hinterteile, die sich amüsieren.

In diesen Bildern wird die Trennlinie zwischen den lotrecht und ruhig miteinander verbundenen Oberkörpern und den dynamischen Bewegungen der Beine veranschaulicht. So wie in diesem Tanz auf der Empfindungs-Ebene die Bewegung betont aus permanenter Zentrierung und Ruhe kommt, finden wir dieses Prinzip auch in der Technik des Tango verankert. So benötigen wir für Führung und Koordination seiner komplizierten Beinbewegungen das ruhige Medium der stabil vereinten Oberkörper, zwischen denen Senden und Empfangen der differenzierten Führungsimpulse nicht durch unkontrollierte Zufallsbewegungen gestört wird.

 

Eine Kalligraphie des Herzens

(…) Die Führung im Tango ist sehr subtil. Die Schritte sind nicht das eigentliche Problem, sondern in ihrem Grundwesen schon dessen Lösung, da der Tanz im wesentlichen von den miteinander verbundenen Oberkörpern, aus dem Dialog der Achsen, seinen Ausgang nimmt. Die Bahnen des Körpers werden durch die Beine und Füße lediglich auf den Boden übertragen. Ähnlich der Kalligraphie, wo die Schreiblinien durch die feste Achse eines stabilen Federhalters in präziser Eleganz zu Papier gebracht werden, lassen sich durch die stabile Achse der Tänzerin die von ihm geführten Oberkörperbewegungen exakt auf ihre Beine übertragen, welche die Bewegung lediglich noch auszuformen brauchen. (…)

In einer Zeit, in der es für einen Mann schwierig war, eine Partnerin zu finden, gab es das dringende Bedürfnis, innige Nähe und lustvolle Umarmung außerhalb einer festen Bindung zu erleben, so wie das heute in unserer Single-Kultur aus ganz anderen Gründen wieder der Fall ist. Hauptsächlich männliche Einsamkeit, das Bedürfnis nach Nähe und sexueller Berührung, waren vor dem Hintergrund akuten Frauenmangels gewiß treibende Kräfte bei der Entstehung des Tango. Man kann daher ruhig die These wagen, daß Tango ein Tanz ist, der vor allem von Männern kreiert worden war, um die weibliche Gunst zu erlangen. Er ist also sicher kein Machotanz, sondern ein Tanz, in dem der Mann zwar ganz Mann sein durfte, jedoch gefühlvoll und einfühlsam sein mußte. Natürlich gab es auch den anderen Tango, der zudringlich und grenzüberschreitend war und eher in den Bordellen getanzt wurde, nicht zuletzt zur Kontaktaufnahme in eindeutiger Absicht, oder von den Zuhältern, um ihre Mädchen zu präsentieren. Doch hätte der Tango sich nie so sehr verbreiten können, hätte er sich darauf beschränkt. (…)

Um noch einmal zu dem Beispiel der Kalligraphie zurückzukehren: Mann und Frau sollten ihre Linien so auf den Boden zeichnen, als würde dieser ersatzeshalber die Liebkosungen erhalten, die eigentlich für den Partner bestimmt sind. Die Beziehung zum Boden ist im Tango zärtlich. So spricht man in Argentinien von der Art und Weise, wie man in diesem Tanz die Schritte setzt, „es como cariciar la tierra“ (Es ist, wie den Boden zärtlich zu streicheln). Die Füße scheinen im Intervall von Verzögern und Beschleunigen, dicht über den Boden hinweggleitend, diesen zu berühren. Doch läßt sich dabei kein Geräusch vernehmen, da es im Tango kein Schleifen gibt. (…) Aus folgendem Tango Buch von Ralf Sartori: „Tango – die einende Kraft des tanzenden Eros“, mittlerweile ein Klassiker der Tango-Literatur, der im August 2010 in überarbeiteter und erweiterter Auflage im „Allitera“ Verlag neu erschienen ist, mit 232 Seiten, für 19,80 Euro unter ISBN 978-3-86906-132-0.

Weitere Tango-Literatur unter www.tango-a-la-carte.de/tango-buecher.

 

Zur jüngeren Geschichte des Tango und zu seiner Wiederkehr in die Alte Welt

Der folgende Text stammt aus dem 4. Tango-Buch von Ralf Sartori: „Tango in München / Geschichte und Gegenwart der Münchner Tango-Szene“ 2007 erschienen im München Verlag, unter der ISBN 978-3-937090-21-4, mit 160 Seiten, vielen Farb- und einigen Schwarzweißphotos. Dieses bereits vergriffene Werk ist nur noch in Rest-Exemplaren beim Autor direkt zu erhalten, für 12,00 Euro, incl. Versand.

(…) Hier sind einige Hintergründe zusammengefaßt, warum, wann genau und wie der Tango Ende der 70er Jahre nach Europa, über Berlin und Paris, zurückgekehrt war, nachdem er dort schon einmal, zu Anfang des letzten Jahrhunderts, große Erfolge gefeiert hatte.

(…) Es geschieht einerseits, um die zahllosen lokalen Tango-Szenen kultur- und zeitgeschichtlich einzubinden, auch wenn es hier nicht in der gebotenen Kürze möglich ist, auf den gesellschaftlichen Nährboden einzugehen, den nicht nur Europa, sondern überhaupt die modernen urbanen Gesellschaften global mittlerweile für den Tango darstellen. Doch dazu ausführlich in meinem Buch „Tango die Einende Kraft des tanzenden Eros“, das nun in erweiterter Neuauflage wieder lieferbar ist.

Anderseits erfolgt diese Zusammenfassung noch aus einem anderen, nicht minder wichtigen Grund: um die ersten Protagonisten dieses kulturellen Transfers zu ehren, einer damals jungen Generation Rio Platenser, denen wir es zu verdanken haben, daß wir heute fast überall in Europa wieder Tango tanzen können. Allen voran den von Berlin aus wirkenden Juan Dietrich Lange aus Montevideo, dem nicht nur bei der Initialzündung des Münchner Tango’ eine Schlüsselrolle zukam, sondern der überhaupt die ersten Generationen guter Tänzer in West-Berlin und der BRD in seinem „Estudio Sudamerica“, der ersten und ältesten Tango-Schule Deutschlands und zugleich Europas, ausgebildet hatte. Es erscheint hier als eine glänzende Ironie der Geschichte, daß der von allen immer so genannte – und unter dieser Bezeichnung stets vermarktete „Tango Argentino“ von einem Uruguayer, nach fünfzig Jahren Tango-Abstinenz auf unserem Kontinent, nach Europa zurückgebracht worden war. Ihm ist es gewiß zu danken, daß hier eine gute Basis und eine solide Tradition gelegt wurde und gepflegt wird bis zum heutigen Tag, vor allem in Deutschland und ebenso in München, wo ich mich mit meiner Tango-Arbeit heute in der Tradition meines Lehrers sehe.

Daher soll Juan Dietrich Lange hier gleich mit einem eigenen Beitrag zu diesem Thema zu Wort kommen. Heute ist Berlin die zweitgrößte Tango-Metropole der Welt, nach Buenos Aires – und Wirkstätte von schätzungsweise 80 Tango-Lehrern, 2000 Schülern sowie einer nicht überschaubaren Zahl an Freizeit-Tänzern. Anfang der 90er Jahre erreichte diese Welle von Berlin aus auch München.

Diktatur, und die Renaissance des Tango’ im Exil/ Juan Dietrich kam 1973 nach Deutschland, von seinem Heimatland Uruguay aus. Mit siebzehn Jahren hatte er da einen Monat im Gefängnis verbracht, ohne Verurteilung: aufgrund der Mitgliedschaft in einer linken Gruppierung. Seine Abreise kam gerade noch rechtzeitig, denn als er Hamburg mit dem Schiff erreichte, putschte in Uruguay bereits das Militär. Chile und Argentinien folgten bald darauf.

Tango, der Tanz, der in den Arbeiter-Vororten von Buenos Aires und Montevideo um die vorletzte Jahrhundertwende geboren wurde und sich zur Basis von Argentiniens kultureller Identität entwickelt hatte, war in seiner Heimat für lange Zeit eingeschlafen.

„Tango war während der Diktatur nicht ausdrücklich verboten“, sagt Juan Dietrich dazu, einen der Mythen der Tango-Geschichte auf den Müll werfend. „Es waren ganz einfach alle Versammlungen von mehr als zwei Personen verboten. Und Osvaldo Pugliese (einer der großen Komponisten und stilprägenden Musiker) zum Beispiel war auch nicht eingesperrt worden, weil er Tangos spielte, sondern weil er Kommunist war – und um sein Orchester seiner Führung zu berauben.“ Der Popularitätsverlust des Tango’, erklärt er, liege vielmehr in einem klassischen Generationen-Konflikt begründet. „Tango verkörperte einfach alles, das alt –, gewesen – und konservativ war. Meine Freunde und ich standen auf Rock-Musik.“

Nachdem er einige Jahre in Frankfurt bei einer Tante gewohnt hatte, zog Juan Dietrich nach Berlin, um Ethnologie zu studieren. Als die anfängliche Euphorie über das Leben in Europa zu verfliegen begann, empfanden er und seine Freunde ein zunehmendes Maß an Desorientierung. „Nach und nach wurde uns klar, daß die Rock’n Roll-Rebellion nichts mit uns zu tun hatte“, sagt er, „und wir begannen, uns nach einer Verbindung zu unserem Heimatland umzusehen.“ So begab er sich auf seine Suche, zuerst in intellektueller Weise, in Verbindung mit seinen Studien. Aber bald schon nahm sie eine persönlichere und mehr körperorientierte Form an. ( …)

 

Die Wiederkehr des Tango und das Thema Exil – Wie alles begann

von Juan Dietrich Lange

„In den 70er Jahren wird die südliche Hemisphäre Lateinamerikas von einer Serie brutaler Militärputsche heimgesucht. Diese Serie beginnt Mitte 1973 in Uruguay mit der Auflösung des Parlaments durch eine Militärjunta. Tausende von Uruguayern (bis 1976 verläßt ein Drittel der Bevölkerung das eigene Land) gehen in das Exil nach Argentinien und Chile. Knapp drei Monate später, im September 1973, schlägt das Militär unter der Führung von Pinochet in Chile zu. Tausende von Chilenen fliehen nach Argentinien, Mexiko, Schweden und andere hilfsbereite Länder. Der Kessel schließt sich dann, als 1976 in Argentinien die

Militärjunta putscht und abermals Tausende von Menschen flüchten müssen. Zu diesem Zeitpunkt verspricht nur noch Europa eine Rettung vor Verfolgung, Gefängnis, Folter und Tod. Es beginnt das Leben im Exil in Holland, Frankreich, Spanien, Schweden, der Bundesrepublik und anderen Ländern. Der Wohlstand tut gut, und doch bleibt ein Gefühl des schmerzhaften Verlustes. Heimweh, die Freunde, das Stadtviertel, die Fiestas, die Frauen, die Männer, die offenen Umgangsformen, die Spontaneität, die Improvisation, das Lebensgefühl und manches mehr. Der Verlust schmerzt und die Gefühle führen zurück in die Heimat, auf der Suche nach bekannten Ausdrucksformen, die das Leid ausdrücken können. Für Uruguayer und Argentinier ist es der Tango. Aus der Erinnerung wird langsam eine Rekonstruktion gewagt. Mit der Musik und dem Gesang beginnt die Tango-Bewegung unter den südamerikanischen Exilanten in Paris. Sie schaffen sich im November 1981 ihre eigene Bühne: Das „Trottoirs de Buenos Aires“. Hier sind Juan José Mosalini, das Cuarteto Cedrón, Valería Munariz, Susana Rinaldi, Joséfina, Jacinta und andere zu Hause. Auf dem Horizonte-Festival 1982 in Berlin entsteht dann der finanzielle Rahmen, alle diese Tango-Größen gleichzeitig vorzustellen. Im Künstlerhaus Bethanien wird der „Tango Palast“ von Daniel Zelaya und Juan Carlos Castaldi entworfen. Hier tritt die damalige Pariser Musikerszene auf: Juan José Mosalini, das Cuarteto Cedrón und das Sexteto Mayor, das damals gerade im “Trottoirs de Buenos Aires” gastierte. In der Philharmonie spielen Astor Piazzolla und Susana Rinaldi. Es gelang den Exilmusikern, mit Unterstützung Astor Piazzolas, das Interesse für den Tango bei den Bewohnern der Alten Welt zu wecken. „Tango nuevo“ wurde er genannt. Anfangs nahm man ihn mit großer Verwirrung, und dann mit zunehmender Begeisterung auf. Der Tanz ließ auf sich warten. Das europäische Klischee war allgegenwärtig. So sah man im Tango Palast 1982 zwei Welten aufeinanderprallen, die eine bestehend aus den europäischen Matadoren, die in Akkordarbeit versuchten, ihre Frauen zu konzertanter Musik aufs Kreuz zu legen, während sie mit verächtlich strafender Miene auf jene Dilettanten schauten, die eine andere Welt darstellten: Ein paar eng umschlungene Pärchen, die sich zur Pausenmusik von Juan D´Arienzo und Di Sarli kaum von der Stelle bewegten, und mit zögernden, langsamen Bewegungen die körperliche Nähe suchten, um sich ein wenig Wärme und Geborgenheit zu geben. Die Melancholie von Buenos Aires und Montevideo war in Berlin eingetroffen, doch es brauchte noch viel Zeit, Geduld und Ausdauer bis sie ihre wirklichen

Freunde gefunden hatte.

Folgende Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner begannen im Exil mit Tango-Aktivitäten (Ort und Jahreszahl geben den Beginn der Tätigkeit an):

Juan Gelman (Texter vom Cuarteto Cedrón, Paris 1977)

Cesar Strocio (Bandoneonist vom Cuarteto Cedrón, Paris 1977)

Daniel Amaro (Musiker,”Tangos a la ciudad de Montevideo”, Madrid 1977)

Valería Munariz (Sängerin “Je te chanterai un Tango…”,Paris 1977)

José Luis Castineiras de Dios (Musiker, Komponist, Paris 1977)

Juan José Mosalini (Bandoneonist “Tango Rojo”, Paris 1977)

Gustavo Beytelman (Musiker, Pianist, Paris 1977)

Susana Rinaldi (Sängerin “Buenos Aires – Paris”, Paris 1979)

Ciro Perez (Guitarrist “Canyengue”, Paris 1980)

Juan Tajes (Sänger , Tango 4, Amsterdam 1981)

Juan Carlos Castaldi (Soziologe, Psychologe, Berlin 1981, Zusammenstellung Katalog “Melancholie der Vorstadt – Tango”) Festival de Horizonte, Berlin 1982

Juan D. Lange (Ethnologe, Tänzer, Berlin 1982)

Mirta und Gustavo (Tanzpaar, Amsterdam 1982)

Ana Bayer (Tanzlehrerin, Choreographin, Berlin 1983)

Sie sind die wichtigsten Tango-Pioniere im Exil, doch ohne die Unterstützung der vielen unbekannten Personen aus Lateinamerika und aus Europa in der damaligen Zeit, hätte der Tango keine Überlebenschance gehabt.“ (Juan Dietrich Lange)

Der Katalog, den Juan Carlos Castaldi damals zusammengestellt hatte, erschien unter dem selben Titel, „Tango, Melancholie der Vorstadt“, im Berliner Verlag „Fröhlich und Kaufmann“ und teilt das leider zeitgemäße und so typische Schicksal vieler wichtiger und wertvoller Bücher, die nicht mehr im Handel sind, da sie nicht mehr verlegt werden.

Juan Dietric Lange 

 

Unternehmen wir nun einen kleinen Zeitsprung von Anfang der 1980er Jahre zum Jahr 2000:

Die darauf folgende Lehrergeneration, zu der ich mich auch mit meiner Tango-Arbeit seit 1994 in München zähle, welche von dieser Pionier-Generation vom Rio de la Plata seit den 1980ern ausgebildet worden war, und auch die bereits übernächste(n), trugen die Tango-Kultur nach und nach immer weiter in die westlich urbanen Gesellschaften des Alten Kontinents hinein. (Ralf Sartori)

Doch mit einem Male schienen die reinkarnierten europäischen Auswanderer an den Rio de la Plata, von einst, zurückzukehren

Europa, das bereits seit Generationen für jene Argentinier aus den von hier stammenden Auswandererfamilien immer ein Anziehungspunkt gewesen ist, wurde nun durch die zunehmende Verbreitung des Tango’ auf dem alten Kontinent, für solche, die mitlerweile selbst mit ihm wieder zu arbeiten begonnen hatten, ein noch interessanteres Ziel. Denn dadurch war hier ein Terrain entstanden, auf dem sie sich mit ihrer angestammten Kultur niederlassen – und nun, zumindest dem Anschein nach, leichter auch beruflich verwirklichen konnten. Dieser Boden war von uns europäischen Lehrern bereitet, und mit Hilfe der alten Meister vom Rio de la Plata, bestellt worden. Nun kamen die jüngeren Generationen argentinischer Tangueros und forderten davon einen Anteil ein.

Die Tango-Kultur hat sich mittlerweile in Europa auch wirtschaftlich zu einem interessanten Faktor entwickelt, was angesichts des ökonomischen Niederganges in Argentinien, der zwischen 2003 und 2005 seinen Höhepunkt erreicht hatte, nun erst Recht zu einem solchen Zustrom beitrug. Das führte zu einer zusätzlichen Bereicherung auf künstlerischem Gebiet. Es machte aber andererseits die Arbeit derer, die hier etwas aufgebaut hatten, auch nicht immer leichter.

Was heißt hier eigentlich Tango-Lehrer?/ Und es kommt erschwerend hinzu – ein Phänomen, das in allen Städten gleichermaßen zu beobachten ist und das eigentliche Problem darstellt, daß immer mehr Tänzer, die bereits einige Kurse durchlaufen – dabei ein wenig Erfahrung gesammelt haben, nun selbst schon beginnen, Tango zu unterrichten und sich, von Fall zu Fall mehr oder (meist aber) weniger begründet, als lehrbefähigt einschätzen – und Tango-Lehrer nennen. Viele dieser Pseudolehrer antworten auf kritisches Hinterfragen ihres Tuns, daß sie ohnehin nur Anfänger unterrichteten. Doch gerade hierin liegt ja genau das Problem, da einmal falsch gelegte Grundlagen bei Anfängern oft nur unter größten Mühen zu korrigieren sind, wenn überhaupt. Fortgeschrittene Tänzerinnen und Tänzer laufen ohnehin keine Gefahr, bei solchen Lehrern zu landen. 

 

Szene-Mischung und -Dynamik/

Zur Phänomenologie von Tango-Szenen, vermutlich aber auch von vielen ähnlich gestrickten, gehört, daß sie sich über lange Zeit, für nicht Eingeweihte, im Verborgenen entwickeln, für die meisten also unsichtbar, unter der Oberfläche des mittlerweile alles vereinnahmenden – und kommerzialisierenden Marktplatzes unserer äußeren Wirklichkeiten. Eine Tatsache, die doch höchst bemerkenswert ist. Der Grund dafür könnte darin liegen, daß sich, in unserem Fall, anfänglich jeweils immer eine handvoll Verrückter – ich bitte das überwiegend positiv zu verstehen – zusammengefunden hat, um sich, aufbauend auf einer reichen, gewachsenen kulturellen Tradition, eine neue Welt zu erschaffen, mit ihren eigenen Regeln und Strukturen, zur Verwirklichung persönlicher Träume, die man mit Gleichgesinnten teilt und mit ihnen gemeinsam erleben möchte. Angesichts der ansonsten gewohnten totalen Gewerblichkeit und der alle Bereiche durchdringenden psychischen Manipulation kapitalistischer Bedürfnisweckung – ein schier anarchistischer, wundervoll subversiver Akt? So könnte man ins Schwärmen geraten. Doch leider hat das auf Dauer keine Überlebens-Chance. Lange Zeit bleibt so ein höchst heterogenes Szene-Konglomerat tatsächlich recht familiär und überschaubar. Bei Veranstaltungen liegen anfangs meist irgendwelche Zettel von weiteren Veranstaltungen aus. Und lediglich so läßt sich dem roten Faden folgen. Doch mit der Zeit bilden sich Fraktionen heraus, verschiedene Lager entstehen und bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß sich längst nicht überall die Zettel von allen Veranstaltern finden. Aus naheliegenden Eigen-Interessen entstehen Konkurrenz-Verhalten und Rivalität, die alle menschenüblichen Motiv-Färbungen annehmen. Da, abgesehen von Freude und Begeisterung, auch wachsende Investitionen ins Spiel kommen, Überlegungen von Gewinn und Verlust, wird nach und nach zunehmend in die üblichen Werbemittel investiert. Schließlich entdecken Presse, Film- und Werbe-Industrie den Schatz, der im Verborgenen gewachsen ist und geben vor, mit ihm einen neuen Trend entdeckt zu haben, den sie im eigenen Interesse weiter heraufbeschwören – und dabei nach Kräften verdrehen und verwässern. Un-Worte wie „Event“ und „Lifestyle“ setzen der Unverdaulichkeit dieser Sauce die Krone auf. Das Ganze entwickelt sich dadurch immer mehr in die Breite; die Flammen eines brodelnden Wahnsinns, die zum Blut des Tango’ gehören, tauchen ein in die lauwarmen Wasser des Massengeschmacks und nähern sich dabei den üblichen Durchschnittstemperaturen leidenschaftslosen Mittelmaßes: Bis das Phänomen schließlich immer mehr zur Branche verkommt. Veranstalter und Lehrer heizen diese Entwicklung natürlich, ohne eine andere Wahl zu haben, kräftig an, weil sie Öffentlichkeit und Erfolg für ihre Arbeit – und einen finanziellen Rückfluß für ihre Investitionen, benötigen. Und mit dem eigenen Studio wächst noch der ökonomische Druck, somit der Zwang zu weiterer Kommerzialisierung. Umso erfreulicherer finde ich es, daß der Tango doch immer noch so lebendig geblieben ist, daß sich immer wieder neue persönliche Initiativen dazu entwickeln, auch in privaten Bereichen (…)

Auszug aus dem 4. Tango-Buch von Ralf Sartori: „Tango in München Geschichte und Gegenwart der Münchner Tango-Szene“ Mehr Tango-Literatur unter www.tango-a-la-carte.de/tango-buecher.

 

Die Rollenbilder im Tango

aus „Tango, die einende Kraft des tanzenden Eros“

Tango ist international, ohne daß er jemals einer Standardisierung unterworfen wurde. Das ist einer der Gründe, weshalb er über die bloße Wahrnehmbarkeit seiner Existenz hinaus immer noch sehr lebendig und aktuell ist. Die Prinzipien, auf denen er beruht, sind zeitlos und universell. (…)

Tango ist die getanzte Geschichte der Liebe in ihren unterschiedlichen Schattierungen, sich ewig wiederholend, variierend, immer wieder neu. (…)

Wenn wir hier von gewissen Eigenschaften als typisch männlich oder weiblich sprechen, bedeutet das nicht, dass jeweils Mann oder Frau diesen ausschließlich zu entsprechen hätten. Die Ideen von Männlich und Weiblich haben eher archetypischen Charakter, da sie zu allen Zeiten in den unterschiedlichsten Kulturen hervorgetreten sind. Wir gehen davon aus, daß in jedem Menschen in unterschiedlichem Maße männliche und weibliche Anteile vorhanden sind. Wir gehen weiter davon aus, dass die Entwicklung der männlichen Qualitäten auch die Vertiefung der weiblichen Fähigkeiten im Sinne einer ganzheitlichen Entwicklung nach sich ziehen sollte und umgekehrt. Beide Seiten sind notwendig, um einem Menschen die Ganzheit des Seins zu eröffnen. Auf der persönlichen Ebene fordert der Tango vom Mann neben den typisch männlichen Qualitäten wie Entscheidungs- und Führungsbereitschaft, ein Höchstmaß an Empfindsamkeit, Einfühlungsvermögen und Hingabefähigkeit und von der Frau die männliche Fähigkeit der Strukturgebung in Haltung und Bewegung, sowie formaler Disziplin. Das Erlernen des Tangos verlangt von beiden sowohl die männliche Eigenschaft zu differenzieren, wie auch die weibliche, sich der Ganzheit des Geschehens hinzugeben, sich auf eine gegebene Situation einzustellen. Beide entwickeln, miteinander lernend, männliche und weibliche Qualitäten, um sie in sich selbst zu einer Einheit zu verbinden. Aber auf der äußeren, der Paarebene fordert der Tango im Sinne der Anziehung zwischen den erotischen Partnern die maximale Polarisierung des Männlichen und des Weiblichen auf zwei unterschiedliche Personen, auf Mann und Frau. Neben der Einheit der männlichen und weiblichen Anteile auf der inneren Ebene strebt der Tango also die Einheit von Mann und Frau auf der Paarebene an, und zwar auf der Grundlage größtmöglicher äußerer Verschiedenheit. Auf der Paarebene ist der Mann vordergründig sehr männlich und die Frau vordergründig sehr weiblich. Doch auf der inneren Ebene nimmt er die Inspiration für die Führung aus der Hingabe an sie. Ebenso ist ihre Empfänglichkeit ein höchst aktiver Zustand.

Das Wiedererscheinen des Tangos in Europa könnte für eine gewisse Stufe in der gesellschaftlichen Entwicklung zwischen den Geschlechtern stehen: In der Zeit vor der Emanzipation wurden Mann und Frau durch Sozialisation und gesellschaftlichen Druck genötigt, ganz in ihrem jeweiligen geschlechtsspezifischen Rollenbild aufzugehen. Dadurch kam es zu einer ausgeprägten Polarisierung der Geschlechter. Die Anziehung war groß und das Zueinanderkommen durch Konventionen erschwert, was die Anziehung weiter erhöhte. Durch die einseitige Rollenerziehung waren Männer und Frauen jedoch kaum in der Lage, die Regungen des anderen nachzuvollziehen. Zu hoch waren die Zäune, welche die Gesellschaft zwischen den Geschlechtern errichtet hatte. Dadurch mündete die Anziehung nicht selten nach Überwindung der äußeren Hindernisse in den Krieg der Geschlechter, was eine wirkliche Partnerschaft erschwerte. Die Feministinnen negierten die Normen dieser Rollenerziehung und lehnten die alten Rollenbilder ab. Die dadurch auftretende Verunsicherung führte zunächst zu einer Depolarisierung. Viele aufgeklärte Männer mühten sich nun, weibliche Qualitäten zu erwerben und negierten in sich das Männliche. Viele Frauen erwarben in ihren emanzipatorischen Anstrengungen männliche Qualitäten und befreiten sich gleichsam von ihrer Weiblichkeit, da diese für sie den Teil repräsentierte, der sich verletzt, unterdrückt und gedemütigt fühlte. Der Kampf der Geschlechter trat in den Hintergrund. Dadurch jedoch, dass viele Männer tendenziell das Männliche negierten und die Frauen das Weibliche, nahmen auch Leidenschaft und Anziehung ab. Immer mehr Menschen spüren, dass auch das noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Die erotische Herausforderung unserer Zeit dürfte darin liegen, die gegengeschlechtlichen Anteile in uns zwar zu entwickeln, um die Regungen des Gegenübers nachvollziehen und mit ihm Freundschaft schließen zu können, anstatt den Krieg der Geschlechter zu inszenieren, doch ebenso müssen wir uns mit dem eigenen Pol aussöhnen und ihn wieder neu, und zwar positiv bewerten.

In voremanzipatorischer Zeit unterdrückten Mann und Frau das jeweils andere Prinzip in sich selbst. Nach der Wende kämpfte man gegen das eigene Prinzip an. Wenn Mann und Frau nun den Geschlechterkampf im eigenen Inneren beigelegt haben, also der Mann bereit ist, seine Männlichkeit wieder zu genießen und die Frau ihre Weiblichkeit, beide aber auch die andersgeschlechtlichen Qualitäten achten und entwickeln können, kann es beides geben: eine intensive Anziehung und einen fruchtbaren Dialog. Dann sind sowohl Depolarisierung zwischen Mann und Frau als auch der Krieg der Geschlechter überwindbar. Die Zukunftsvision kann nur sein, dass Mann und Frau, ausgehend von einer Kooperation des maximal entfalteten männlichen, wie auch weiblichen Prinzips auf der persönlichen und auf der Paarebene zu ihrer eigenen Männlichkeit bzw. Weiblichkeit finden. Und genau dort setzt der Tango an. Denn er hat nichts mit unserer Vorstellung vom lateinamerikanischen Machismo gemeinsam. Er ist ein subtiler Dialog zwischen Mann und Frau, der von beiden fordert, ganz bei sich zu bleiben, sich aber auch in den anderen hineinzuspüren. Tango ist kein Kampf, sondern ein feines Spiel mit der Grenze, welches Kooperation verlangt. Gerade deshalb macht er aber auch sichtbar, wo Kampf in Beziehungen stattfindet.

 

Zen und die Tango Philosophie

Das Verzögern im Tango ist das entspannte, kaltblütige Annähern an den letztmöglichen Augenblick, bevor sich Ungleichgewicht einstellt. (…)

Der Moment des Aufsetzens auf den Boden ist in der Bewegung nicht höher zu bewerten als jedes andere Atom im ganzen Bewegungsfluss. Der Geist sollte die gesamte Bewegung in jedem Augenblick völlig ausfüllen, wie guter Wein ein schönes Gefäß. Er sollte wahrnehmend begleiten und behutsam einwirken, ohne die Harmonie des Ablaufes durch äußeres Tun zu beeinträchtigen. Der Weg ist das Ziel, nicht einzelne Schritte. Das heißt: Der Weg von A nach B steht im Vordergrund und nicht A oder B. Nur das gewährleistet eine hohe Qualität von A und B. Ein Ziel in der Tanzbewegung ist, diese inhaltlich maximal zu verdichten. Die Zahl der Bewegungspunkte, die wir wahrnehmen, steigt an. Wir gehen immer mehr in die Tiefe; und zwischen zwei Punkten, die wir zuvor hintereinander, modellhaft gesprochen, wahrgenommen haben, spüren wir noch weitere. Es ist, wie wenn wir nachts in den Sternenhimmel schauen. Zuerst sehen wir nur einige Sterne. Doch je länger wir unsere Aufmerksamkeit auf eine Stelle richten, um so mehr Sterne werden für uns sichtbar. Wir füllen die Bewegung zunehmend nach innen aus und dringen in sie ein. Es ist, wie die Bewegung zu schmecken, sie auf der Zunge zergehen zu lassen. Unsere Bildauflösung wächst dabei immer mehr, entsprechend der Zunahme der Kapazität unserer Wahrnehmung, die wir im Tango schulen. Neben dieser Verdichtung der Kommunikation zwischen Geist und Körper vertiefen wir auch die Kommunikation mit unserem Tanzpartner und die Wahrnehmung des Raumes sowie der anderen Paare. 

Die Begegnung mit unserem Partner ist nur in der Gegenwart möglich, im Augenblick, also außerhalb der Zeit. Nur im Augenblick erfahren wir die Wirklichkeit und spüren das Ewige. Den Augenblicken des wahren Begegnens entsprechen auf der Ebene der Bewegung die in ihr gefühlten Atome. Zeit spielt im Tango keine Rolle, auch nicht Geschwindigkeit, welche abhängig ist von der Zeit. Die Zeit ist, solange wir uns im Augenblick befinden, keine Größe in unserem Bewusstsein. Das Ziel der Bewegung liegt nicht außerhalb von uns. Es geht nicht darum, irgendwohin zu wollen. Wir sind schon da. Unser Tanz gewinnt in dem Maße an Substanz, je mehr es uns gelingt, die Augenblicke zum kontinuierlichen Daseinsstrom zu verdichten, zu einer einzigen Präsenz auszudehnen. Man gibt sich völlig in diese eine Handlung, mit wachem Bewusstsein. Denn der Tango ist kein Gesellschaftstanz. Er will brennen. Auf einer höheren Ebene drückt sich dieses Geschehenlassen darin aus, dass der Mann kaum mehr über seine eigenen Schritte nachdenkt. Er ist wie ein Zeuge. Alles scheint wie von selbst zu gehen. Die Schritte geschehen teils durch Inspiration des Augenblickes, durch hingebungsvolles Erspüren, im Kontakt mit der Musik, den Regungen der Frau, wie auch aus den Erfordernissen des rücksichtsvollen Umgangs mit anderen Tanzpaaren, in der Dynamik auf dem Parkett. Alle Ebenen sind gleich wichtig. Natürlich bedarf es für einen solch souveränen Umgang der Erfahrung. Eine andere wesentliche Voraussetzung ist, die Technik auf dem entsprechenden Niveau ihrer Anwendung so verinnerlicht zu haben, dass es nicht mehr nötig ist, über sie nachzudenken. Technisch nicht über die eigenen Verhältnisse hinauszutanzen ist eine wesentliche Forderung, die die ganze Lebensart des Tangos an den Mann stellt. Jedes Zuviel an Berechnung zerstört den Zauber der Unmittelbarkeit, der der Verbundenheit miteinander entwächst. Und genau um diese Berechnung geht es: Wir denken im Tango nicht über die Form nach, ebenso wenig, wie wir über den geeigneten Zeitpunkt der Bewegung nachdenken. Es ist nicht so, dass wir erst denken und uns dann bewegen. Das komplexe Zusammenspiel zwischen Mann und Frau funktioniert nur durch feines Erspüren unter der Führung der Intuition und instinktiver Berücksichtigung aller Wahrnehmungen. Ein angestrebter Zustand im Tango, ebenso wie in den Kampfkünsten, in denen sich der Geist des Zen ausdrückt, ist die Einheit zwischen Geist, Körper und Technik. Von dieser Einheit ausgehend, wird auf der nächsten Ebene die Einheit von Mann und Frau, auf der Grundlage maximaler Differenzierung in den Rollen, möglich. Wenn das Denken führt und nicht die Intuition, entsteht ein Moment des Abwartens, wodurch uns der Fluss des realen Geschehens überholt. In einem Zen Koan drückt sich diese hellwache, aber meditativ in sich ruhende Geistesverfassung, welche für die Kampfkünste, wie auch für den Tango von Bedeutung ist, in einem kurzen und treffenden Bild aus:

 

Das Bild des Mondes im Fluss ist immer in Bewegung.
Doch der Mond ist da und er verschwindet nicht.
Er bleibt und er bewegt sich doch.


Dieser Zen Koan beschreibt den unbewegt in sich ruhenden Geist in Bewegung. Und schon wieder haben wir es mit einem Paradox zu tun, zumindest mit einem scheinbaren. Der Fluss symbolisiert sowohl die Zeit als auch die körperliche Bewegung. Der an sich unbewegte Mond steht für den still im Augenblick verweilenden Geist. Er bewegt sich nur scheinbar, dort wo er sich im Fluss spiegelt. Doch der Mond haftet nicht am Fluss an. Denn der Fluss ist keinen Augenblick der gleiche. Genauso wenig haftet im Tanz unser Geist an vergehenden Augenblicken an. Sonst könnte er nicht mehr in der Gegenwart sein. Er verweilt stets unbewegt im gerade gegenwärtigen Augenblick. So bleibt er in jedem Moment frisch und im Kontakt mit der lebendigen Realität der unentwegt fließenden Augenblicke.

Ralf Sartori

(copyright zu allen Texten bei Autor und Verlag)

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